Reizunterflutung 1: Schlafen in der Fußgängerzone

Das große Festival der Reizunterflutung

Manchmal nerven das Überangebot und die Ablenkung durch Handy, Facebook, Instagram, Youtube, Schule, Eltern, das permanente Alles-wissen-und-haben-Müssen.

Von April bis Juni 2018 haben deshalb Jugendliche und junge Erwachsene vom Jugendzentrum Bonni der Apostel-Kirchengemeinde und Schülerinnen und Schüler der Gesamtschule Mitte in Münster zusammen mit dem Künstler Thomas Nufer künstlerische Undercover-Performances gegen Dauerbeschäftigung, Medien- und Modezwang entwickelt. An mehreren Freitagnachmittagen von April bis Juni machten sie die Straße zu ihrer Bühne und ernteten erstaunte und irritierte Blicke von Passanten. In diesem und zwei weiteren Posts stellen wir euch die Ergebnisse vor.

Es wundert nicht, dass sich immer mehr Menschen nach Einfachheit sehnen, nach Herunterschalten und Konzentration aufs Wesentliche. Trotzdem füllen wir unsere Tag aus mit zahllosen Aktivitäten, enormen Datenmengen und der Befriedigung stetig wechselnder sinnloser Wünsche.

Die permanente Übererregtheit der Medien, der dauernde Konsumzwang und die Angst, bei scheinbar lebensnotwendigen Events nicht dabei zu sein, gerät bisweilen zu einer Farce. Auch die differenzierte Wahrnehmung und die Fähigkeit, Prioritäten zu setzen, ist mittlerweile durch die allgemeine Informationsverstopfung stark in Mitleidenschaft gezogen.

Dabei weiß jeder aus der Musik: Das Entscheidende sind die Pausen. Bezogen auf unser Dasein ist es die Muße, die Stille Betrachtung – die Reizunterflutung.

Eine Zeit, in der der Mensch nicht handeln und nicht verbrauchen muss, in der er gar nichts muss. In der nicht das Damoklesschwert der Produktivität und Konsumption über ihm schwebt, sondern er nur tut, was ihm einfällt. Oder auch nicht tut. Wo er z.B. einfach nur dasitzt und sich jedem Kauf- oder Informationsimpuls entzieht, um nur bei sich und in sich zu sein. Nämlich genau dort, wo das eigentliche Glückserlebnis generiert wird.

Nicht produktiv sein zu müssen – ein fast vergessener Zustand

In diesem Zustand gibt es keine Höhepunkte, die man unbedingt gesehen, erlebt oder haben muss, alles ist wichtig und unwichtig zugleich. Dort ist schon alles, selbst wenn wir es nicht haben oder nie haben werden. Und weil es nichts zu erwerben und zu wissen gibt, entsteht auch keine Notwendigkeit. Ein Zustand, den man Gelassenheit oder Ruhe nennen kann. Man will nichts, strebt nach nichts, freut sich auf nichts, fürchtet nichts, ist von keinem Bedürfnis getrieben. Ohne Zwecke, frei von Zwang und Nützlichkeit. In dieser Erfahrung zu verharren ist die perfekte Art und Weise, Klima und Ressourcen zu schonen.

Aristoteles über die Verhinderung von Muße:

Man muss die Menschen arm machen und sie dauernd in Beschäftigung halten. Der erste Trick ist, dass (…) die Betroffenen ständig mit der Besorgung der Lebensnotwendigkeiten ausgelastet werden und die zu einem Aufstand benötigten Finanzen fehlen. (aus: „Theorie der Tyrannis“)

 

Junge Leute tragen in der Fußgängerzone Salzstaße Luftmatratzen und Bettzeug herbei und legen sich schlafen.

 

Video von Lion Hildebrandt (Jugendzentrum Bonni) zum „Sleep-in“ in der Salzstraße

WN-Redakteur Lukas Speckmann über den Flashmob auf der Salzstraße (mit Fotostrecke von Matthias Ahlke)

Idee und Umsetzung: Thomas Nufer (www.thomasnufer.com) mit Jugendlichen und jungen Erwachsenen des Jugendzentrums Bonni der Apostel-Kirchengemeinde Münster und Schülerinnen und Schülern der Gesamtschule Mitte
mit freundlicher Unterstützung des Kulturamts (Kulturrucksack NRW) und der AGOT (Arbeitsgemeinschaft Offene Türen NRW e.V.)